Das Recht auf Gesundheit umfasst auch sexuelle Gesundheit. Die Perspektive der
sexuellen Rechte fordert eine ganzheitliche Sicht auf die menschliche Sexualität,
ihre Voraussetzungen und ihr Erleben. Ein reduktionistisches Verständnis auf biologische
und physische Facetten greift daher zu kurz. Vielmehr geht es in einem
umfassenden Sinn um einen positiven und respektvollen Umgang mit Sexualität
und sexuellen Beziehungen, frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt.
Dass wir diesen aus theoretischer Sicht naheliegenden Zustand auch heute noch
bei Weitem nicht erreicht haben, zeigen weltweit nicht nur die anhaltende Verfolgung
aufgrund von Gender und die sexualisierte Gewalt in allen Formen. Auch
im näheren Umfeld bleiben sexuelle Selbstbestimmung, Nichtdiskriminierung,
Gleichberechtigung und Integrität zentrale Postulate. Rollenbilder, Wertvorstellungen,
Social Media sind nur einige hartnäckige Einflussfaktoren auf dem Weg zu
einer «sexuellen Gesundheit als Zustand körperlichen, emotionalen, geistigen und
sozialen Wohlbefindens», die die WHO seit 2006 anvisiert.
Der vorliegende fünfte Band der Schriftenreihe «Sexuelle Gesundheit und Soziale
Arbeit» nimmt sich ein Schlüsselthema vor: Der Sexualaufklärung, insbesondere
der institutionalisierten Sexualaufklärung, kommt eine zentrale Rolle zu, wenn es
um die Entwicklung, Herleitung und die Realisierung des Rechtsanspruchs auf sexuelle
Gesundheit geht. Damit geht nicht nur ein höheres sexuelles Wohlbefinden
einher, sondern insgesamt eine gestärkte physische und psychische Gesundheit
aller Menschen jeden Alters.
Wie relevant das Thema ist, zeigt sich aktuell unter anderem an der politischen
Debatte zur Revision des schweizerischen Sexualstrafrechts und an der intensiven
öffentlichen Diskussion um Gender, genderegalitäre Geschlechternormen und
Gleichbehandlung. In beiden Kontexten werden Selbstbestimmung, Integrität und
Identität verhandelt.
Mit den Forschungsergebnissen im vorliegenden Bericht «Sexualaufklärung in
Familie und Schule - Relevanz der Menschenrechte» wird auf der Grundlage von
empirischen Daten hergeleitet, dass die schulische Sexualaufklärung anschlussfähig
und komplementär ist zur familiären Sexualaufklärung und sowohl von Eltern
als auch von Jugendlichen als notwendig erachtet wird. Das ist ein wichtiges Zeichen
in die richtige Richtung. Sexuelle Rechte müssen den Rahmen bieten für ein
gesundes Aufwachsen, eine stabile Sozialisation und die Identitätsbildung sowie
den respektvollen Umgang miteinander. Dazu muss sich Sexualaufklärung über
die Vermittlung von biologischen Fakten und Prävention hinweg allen sexualitätsbezogenen
Themen stellen und auf der lebensweltlichen Situation der Jugendlichen
aufbauen.
Im Handlungsfeld der Sozialen Arbeit ist die Unterstützung gesundheitsrelevanter
Faktoren zentral. Die Auswirkungen sexueller Diskriminierung oder Traumatisierung
reichen bis weit ins Alltagserleben der betroffenen Menschen und oft auch ihrer
Gemeinschaften. Deshalb sind Schutz, Integrität, Nichtdiskriminierung und die Respektierung
sexueller Rechte ein fundamentaler Anspruch Sozialer Arbeit.
Der vorliegende Studienband ist von hoher Bedeutung für die Sexualpädagogik
und die Soziale Arbeit insgesamt. Es ist den Autor*innen zu verdanken, dass auf
der Grundlage empirischer Daten und aus mehrperspektivischer Sicht die Relevanz
sexueller Rechte für die Beteiligten und die Gesellschaft schlechthin unterstrichen
wird.
Der dafür initiierte Forschungsverbund aus der Haute école de travail social
Genève, der Hochschule Luzern - Soziale Arbeit und dem Verband Sexuelle Gesundheit
Schweiz hat für die Schweiz eine relevante Forschungslücke geschlossen.
Die Publikation liefert erstmalig Daten zur familiären und schulischen Sexualaufklärung in der Schweiz. Sie zeigt, was Eltern, Jugendliche, Lehr- und Fachpersonen darunter verstehen und wie sie diese vermitteln bzw. vermittelt erhalten. Darüber hinaus macht sie transparent, welche Relevanz die Akteur*innen den Menschenrechten in ihrer Praxis der Sexualaufklärung beimessen.