Aus der erlebten »Minderwertigkeit« des hilflosen Kindes entwickelt sich  sein ganzes Leben bestimmender individueller »Lebensplan«, der im  Wesentlichen darauf hinausläuft, diese Minderwertigkeit zu überwinden.  Die Zielgerichtetheit, mit der der Einzelne sein Leben gestaltet, ist  nur von daher zu verstehen und äußert sich als ein »Streben nach  Vollkommenheit«. Der Begriff von Vollkommenheit kann für jeden Menschen  einen anderen konkreten Inhalt besitzen, da dieser sich aus dem  individuellen Schicksal jedes Einzelnen herleitet, ihn zu verwirklichen  aber gilt jedem als Sinn des Lebens. Alfred Adler schildert nun in  seinem Spätwerk »Der Sinn des Lebens« (1933) den Konflikt zwischen  subjektiver Sinngebung und objektivem Sinn; letzterer gilt als »wahr«,  da er »außerhalb unserer Erfahrung« liegt. Der Grundgedanke, der  dahintersteht, lautet: Die Menschen haben im Verlauf der Evolution das  Gemeinschaftsgefühl als Artspezifikum erworben. Seelische Krankheiten (  u. a. Neurosen, Psychosen) sind Symptome eines Konflikts des Einzelnen  mit der Gemeinschaft, sind also Hemmungen des Gemeinschaftsgefühls durch  frühkindliche negative Einflüsse (z. B. in der Erziehung). Aus dieser  Erkenntnis ergeben sich einesteils therapeutische Maßnahmen, darüber  hinaus aber auch Ansätze für eine »wissenschaftliche« Ethik.
»Die Individualpsychologie fordert weder die Unterdrückung berechtigter noch unberechtigter Wünsche. Aber sie lehrt, daß unberechtigte Wünsche als gegen das Gemeinschaftsgefühl verstoßend erkannt werden müssen und durch ein Plus an sozialem Interesse zum Verschwinden, nicht zur Unterdrückung gebracht werden müssen.«
Alfred Adler