Der Titel ist Reminiszenz an das alte Russland: Siwzew Wrazhek ist der Name einer kleinen, am Arbat gelegenen Straße im Zentrum Moskaus, die seit Ende des 19. Jahrhunderts Mittelpunkt des intellektuellen Lebens der ersten Hauptstadt des Zarenreichs war. "In einer fremden Stadt entlieh ich den Titel meines ersten großen Romans bei einer der bemerkenswertesten Straßen meiner Heimatstadt."
Der in zwei Teile gegliederte Roman beginnt im Frühjahr 1914, am Vorabend des Ersten Weltkrieges, und endet in Erwartung des Frühlings im Winter des Jahres 1920. Er ist gleichsam Chronologie der Ereignisse, die nicht linear erzählt, sondern in kinematographischer Montagetechnik miteinander verknüpft werden. Im Zentrum stehen die Vertreter der alten Werte, die durch die Kataklysmen jener Jahre - den Ersten Weltkrieg, die Revolution und den Bürgerkrieg zwischen den "Roten" und den "Weißen" - hin- und hergeworfen werden. Protagonisten sind Iwan Alexandrowitsch, ein betagter Professor der Ornithologie, und seine Enkelin Tatjana, "Tanjuscha", deren Entwicklung vom Mädchen zur jungen Frau beschrieben wird. Wie durch ein Brennglas werden die Ereignisse der Epoche im Mikrokosmos des Professorenhaushalts betrachtet. Zu dieser heilen Welt hat nur ein enger Kreis von Verwandten und Bekannten Zutritt - der etwas verschrobene Pianist und Komponist Edward Lwowitsch, der Student Ehrberg, der Student der Naturwissenschaften Wasja Wolchowskij, der spätere Bräutigam Tatjanas, der Philosoph und Privatdozent Aleksej Dmitrijewitsch Astafjew - mit anderen Nebenfiguren kommen weder der Professor noch seine Enkelin je in Kontakt. Die defekte Kuckucksuhr in der Wohnung ist Symbol dessen, dass die Zeit aus den Fugen geraten ist.
Der realen Ebene des Professorenhaushalts wird eine gleichsam surreal-symbolische Ebene von Episoden aus der Tierwelt gegenübergestellt. Eine Schlüsselszene ist hier der Kampf zweier Ameisenvölker, die schließlich beide von den Füßen einer menschlichen Armee zertreten werden, die in einen ebensolchen sinnlosen Kampf zieht, wie ihn die Ameisenvölker soeben gefochten haben: es ist der Beginn des Ersten Weltkrieges.
Mit Beginn der Umwälzungen nach dem Umsturz der alten Ordnung im Oktober 1917 durch die Bolschewiki wird Moskau zur "Totenstadt", in der das Haus des Professors in der Siwzew Wrazhek zum Zentrum von Hoffnung und Menschlichkeit wird, während alle, die mit dem Kreml und der Ljubjanka, dem Gefängnis mit den Folterkellern der Bolschewiki, in Verbindung stehen, regelrecht gesichts- und leblos bleiben.
Ossorgin ist ein virtuoser Stilist und meisterlich komponierender Schriftsteller.
Eine Entdeckung: ein Roman aus dem Jahr 1928, erschienen in der Pariser Emigration und nun neu aus dem Russischen übersetzt.
»In einer fremden Stadt entlieh ich den Titel meines ersten großen Romans bei einer der bemerkenswertesten Straßen meiner Heimatstadt« - schrieb Michail Ossorgin, der bereits 1922 auf Lenins Befehl hin die Sowjetunion verlassen musste und es mit diesem Roman zu internationaler Berühmtheit brachte.
Die Straße in Moskau heißt »Siwzew Wrazhek«. Es ist eine kleine Straße im Zentrum von Moskau, doch seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit großer literarischer Tradition: Der junge Tolstoj lebte hier, genauso wie Marina Zwetajewa und Pasternaks »Doktor Schiwago« spielte hier zum Teil.
Im Frühjahr 1914, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, beginnt »Eine Straße in Moskau« und endet im Frühlingserwachen des Jahres 1920: Weltkrieg, Revolution und der Kampf zwischen den »Roten« und »Weißen« ist auch durch diese Moskauer Straße gegangen, hat ihre Bewohner zu anderen Menschen gemacht. Wie durch ein Brennglas werden die epochalen Ereignisse im Mikrokosmos eines Professorenhaushalts um den Ornithologen Iwan Alexandrowitsch und seine Enkelin »Tanjuscha« verwundert betrachtet und zu einem Mosaik aus 86 Bildern und Szenen meisterhaft montiert: ein Film in Prosa, ein dramatisches Personal, unvergessliche Szenen, realistisch direkt oder symbolisch-parabelhaft überhöht. »Eine Straße in Moskau« ist ein Zeitroman und die literarische Chronik eines wiederentdeckten großen russischen Stilisten.
1878 als Spross einer Adelsfamilie in Perm/Ural geboren, wurde Michail Ossorgin (eigentlich Iljin) in der Zeit der revolutionären Unruhen des Jahres 1905 als Sozialrevolutionär verhaftet; er floh ins Ausland und kehrte erst mehr als ein Jahrzehnt später nach Russland zurück. Als Kritiker der Bolschewiki wurde Ossorgin zunächst verbannt, dann 1922 mit einer großen Gruppe Intellektueller auf dem berühmten »Philosophenschiff« außer Landes gebracht. Nach einer Zeit in Berlin ließ er sich in Paris nieder und starb als staatenloser Flüchtling 1942 im zentralfranzösischen Chabris.